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Magersucht wurde zur tödlichen Gefahr

Magersucht wurde zur tödlichen Gefahr

Essstörung – Michelle Weiss aus Holzheim hat ihr zwanghaftes Verhalten überwunden

Von unserer Mitarbeiterin Elisa Luzius

Heute hat Michelle wieder ein Gewicht erreicht, das nicht mehr gesundheitsgefährdend ist. Sie will nicht noch einmal zurückfallen in alte Muster, dabei hilft ihr das offene Reden über ihre Krankheit. Foto: Elisa Luzius

Holzheim. Es ist eine Krankheit, die im schlimmsten Fall tödlich enden kann. Magersucht – eine seelisch bedingte Essstörung, die in der heutigen Zeit viele junge Mädchen betrifft. Erkrankte Menschen verringern die Nahrungsaufnahme, bis es zu schweren körperlichen Folgen kommt, und verschließen sich oft der Umwelt.

Auch Michelle Weiss aus Holzheim geriet in den Teufelskreis der zerstörerischen Sucht, sich mager zu hungern. Bis heute leidet sie an den seelischen Folgen, aber ein Jahr nach Beginn ihrer Krankheit redet sie offen mit Familie und Freunden über die schlimmste Zeit ihres Lebens.

Die Krankheit schlich unauffällig in ihr Leben

Es wurde viel gegessen in dem sonnigen Italienurlaub im Herbst 2011. Michelle hatte sich vorgenommen, danach ein wenig abzunehmen, um die überflüssigen Pfunde von Pizza und Pasta wieder loszuwerden. Sie war stolz, als sie die ersten vier Kilo verloren hatte, auch Mutter Ulrike fand zuerst nichts Ungewöhnliches daran

„Meine Tochter hat bei jeder Mahlzeit der Familie mitgegessen“, beschreibt sie das Essverhalten von Michelle „Viel Obst und Gemüse, was soll man als Mutter dagegen sagen, wenn sich das Kind gesund ernährt?“ Aber schon im Januar des nächsten Jahres war der Gewichtsverlust deutlich zu sehen, Michelle wog nur noch 44 Kilo.

Wenn man sie in der Familie darauf ansprach, reagierte sie zunehmend aggressiver, erinnert sich die Mutter. „Ich habe gespürt, dass etwas nicht stimmt, aber zuerst will man es nicht wahrhaben“, erzählt Ulrike Weiss, die sich aber dennoch entschloss, eine Beratungsstunde bei einer Schulsozialarbeiterin zu vereinbaren.

Abgemagert bis auf die Knochen: Im März 2013 wog Michelle nur noch 33 Kilogramm. Dennoch wollte sie sich zunächst nicht helfen lassen. Währenddessen recherchierte Michelle im Internet über Diättipps und lernte sämtliche Kalorientabellen von Nahrungsmitteln auswendig „Ich habe mich schrecklich gefühlt, wenn sich mein Bauch nach dem Essen nach außen gewölbt hat, also habe ich beschlossen, noch mehr wegzulassen“, beschreibt die 16-Jährige ihre Situation. Sie ließ in der damaligen Lage schließlich alle ihre Schulbrote verschwinden.

Mit vielen Tricks und Lügen das Essen verweigern

Auf 37 Kilo hatte sich die Gymnasiastin runtergehungert, als sie mit ihrem eigenen Einverständnis in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen wurde. Ziel sollte es sein, jede Woche 500 Gramm zuzunehmen, aber insgeheim wollte Michelle nicht aufhöhen, weiter Gewicht zu verlieren.

„Die Krankheit war wie meine beste Freundin für mich, und ich wollte nicht, dass sie mir jemand wegnimmt“, erklärt Michelle ihren Kontrollzwang. „Die Not macht erfinderisch“, erinnert sie sich, „bevor ich mich wiegen musste, habe ich einfach jede Menge Wasser getrunken, um das Klinikpersonal zu täuschen.“

Nach einem halben Jahr flog der Betrug auf, und Michelle wurde nach Lüneburg in eine Spezialklinik für Essstörungen verlegt. Doch auch dort gab es Mittel und Wege, das Essen verschwinden zu lassen: Michelle versteckte den Käse von ihrem Brot in der Hosentasche und den Nachtisch in den Socken.

„Wir mussten unzählige Kleidungsstücke entsorgen, weil sie wegen der fettigen Lebensmittel nicht mehr zu reinigen waren“, erinnert sich die damals verzweifelte Mutter, die daraufhin sämtliche Hosentaschen zunähte. Für jede Kalorie, die Michelle zu sich nahm, machte sie heimlich Sportübungen auf ihrem Zimmer, um keinesfalls zuzunehmen.

Die Sucht zu magern wurde lebensbedrohlich

Jeder einzelne Knochen war unter der dünnen Hautschicht zu erkennen, als Michelle im Mai nur noch 31 Kilogramm wog. Bewegungen wurden anstrengender, die Schmerzen im Bauch wurden unerträglich, und auf den Armen bildete sich ein stärkerer Haarwuchs, mit dem sich ihr Körper wegen der fehlenden Fettschicht wärmen wollte. Michelles Gesicht war aufgeschwemmt vom vielen Wasser, das sie trank, und sie musste sich mehrmals übergeben.

„Das Schlimmste war, dass ich ständig meine Familie und Freunde belogen habe, die sich so sehr um mich kümmerten“, sagt der Teenager heute. Sie merkte, wie sehr ihre Familie darunter litt zuzusehen, wie sie zunehmend lebensbedrohlich hungerte. „Je niedriger das Gewicht, desto weniger wurde das Gehirn versorgt, und umso weniger war Michelle bereit, sich helfen zu lassen“, erklärt Ulrike Weiss den Tunnelblick ihrer Tochter.

Ein Entschluss rettete Michelle das Leben

„Aus eigener Kraft konnte ich es nicht mehr schaffen, damit aufzuhören“, erzählt Michelle heute. Gerade noch rechtzeitig entschied sie sich, sich mit einer Magensonde künstlich ernähren zu lassen. Im Limburger Krankenhaus wurde diese durch die Nase eingeführt, und Michelle konnte lebensnotwendige Nahrung aufnehmen.

Heute beschreibt sie die Zwangsernährung als Entlastung, nicht mehr lügen zu müssen, nicht mehr zwanghaft Lebensmittel zu verstecken und nicht mehr beim Essen überwacht zu werden. Nach zweieinhalb Monaten Krankenhausaufenthalt wurde Michelle in eine Klinik nach Köln verlegt, in der sie die Normalität beim Essen ganz neu lernen musste, aber sie gab sich Mühe.

„Als Michelle ein bestimmtes Gewicht erreicht hatte, veränderte sich ihre Art, sie wurde freundlicher und lachte wieder viel öfter“, erzählt die Mutter stolz. Jetzt ist sie seit sieben Wochen zu Hause und gewöhnt sich langsam an den Familienalltag.

Leicht ist es auch heute nicht, Essen bleibt nach wie vor ein empfindliches Thema. Aber mit Klassenkameraden und Freunden über die Krankheit zu reden, hilft Michelle, weiter stark zu bleiben. „Es ist mir lieber, wenn mich die Leute darauf ansprechen“, erklärt sie lächelnd.

„Vielleicht kann ich irgendwann anderen Menschen helfen, die dasselbe wie ich durchmachen.“ Bald wird die Familie einen Hund aufnehmen, um den sich Michelle kümmern will. Und Ideen für spätere Berufsziele im sozialen Bereich hat sie auch.

Rh.-Lahn-Ztg. Diez vom Samstag, 18. Januar 2014, Seite 14

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